Marianne wurde uns vor zweieinhalb Jahren komplett ausgestattet übergeben und in den ersten Tagen mussten wir sogar kistenweise überflüssigen Kram von Bord schaffen, um Cello, Gitarren und Mikrofonständer unterbringen zu können. Es durfte nur bleiben, was einen wirklichen Nutzen hatte und so gingen etliche Handtücher, Küchenutensilien, Krimskrams und eine Nähmaschine von Bord (an die wir beim Segelflicken per Hand später noch oft denken mussten). Weniger aus dem praktischen Verständnis heraus – wir sind ja beide Kriegsdienstverweigerer – sondern vielmehr aus kindlicher Spielfreude, ließen wir jedoch einen Teleskop-Schlagstock an seinem alten Platz. In den letzten zwei Jahren geriet das Ding dann so ziemlich in Vergessenheit und erlitt das gleiche Schicksal, wie alle Materie an Bord: Was nicht rostet, schimmelt.
Im April kamen wir nach fünf Wochen auf See in Rio an und sofort fühlten wir uns ziemlich wie zu Hause. Unsere Marina war nicht weit vom Zentrum entfernt und damit in Laufnähe von den Stadtteilen Santa Teresa (das Friedrichshain von Rio) und Lapa (das Neukölln von Rio). Wir mussten nur fünf Minuten durch einen wunderschönen Park schlendern und schon waren wir im Großstadtparadies: Jeden Abend Live-Musik und Caipirinha auf der Straße für nur fünf Reais (ca. ein Euro fünfzig) pro null Komma vier Liter Becher, mit Cachaça-Nachschlag, so viel ich wollte.
An einem regnerischen Dienstag videotelefoniere ich mit meiner Schwester in Deutschland und bei einem süffigen Bier, das hier „Skol“ oder „Antarctica“ heißt, erfahre ich, dass Rio wohl doch ziemlich gefährlich sein soll. „Ist mir jetzt noch nicht so aufgefallen“ sag ich.
Und so vergehen drei weitere, wunderschöne Wochen, in denen wir in der Nacht mit der Trupe Dos Errantes durch die Straßen ziehen und Musik aufnehmen, uns zu Fuß den Corcovado hochquälen, um dem Jesus mal guten Tag zu sagen (soll man eigentlich nicht machen, die Parks seien ja so gefährlich) und auch sonst unsere ganze Naivität diesem Land schenken, um immer wieder von netten Menschen und einer tollen Atmosphäre von künstlerischer und kultureller Vielfalt überrascht zu werden.
Nach einer mehrstündigen Recording Session bei Fernando (Mitglied der Trupe) verpassen wir gegen Mitternacht unsere Busstation und müssen ein paar hundert Meter weiter aussteigen. Also marschieren wir quatschend an der Hauptstraße entlang zurück mit all unserem Kram und da passiert es: Auf einen Schlag verlässt uns eines Nachts plötzlich das Gefühl der Leichtigkeit in einem Land, dass die Fußballweltmeisterschaft zu sich eingeladen hat. Der wunderschöne Park entblößt nun all seine dunklen Ecken mit seltsamen Gestalten, die dort einfach herumlungern und zwei davon wollen 20 Reais von uns haben. Ein Handgemenge beginnt, mein T-Shirt wird zerrissen und wir kommen mit dem Schrecken davon. Am nächsten Tag wollen wiederum zwei alte Männer mit Küchenmessern besitzen, was wir in unseren Hostentaschen haben. Auch hier haben wir wieder Glück im Unglück und spenden nur Kleingeld – das Handy in der hinteren Tasche bleibt unentdeckt. Als wir das nächste Mal wissen, dass wir spät heimkehren werden, schnallt Benni den Stock an den Gürtel. Auf dem Weg nach Hause schneidet uns ein Auto mit getönten Scheiben beim Überqueren der Hauptstraße, kurz vor dem dunklen Park, den Weg ab, wir haben die Kamera im Rucksack, zwei kräftige Menschen steigen aus, mein Beutel mit Bier und Kartoffeln wird heruntergerissen, der Stock schlägt zu, zwei kräftige Menschen steigen wieder ein, die Kartoffeln werden von einem obdachlosen Beobachter eingesammelt. Wir wurden überfallen, haben die Angreifer „zurückgeschlagen“ und gehen mit einem letzten Bier in der Hand nach Hause.
Noch nie habe ich mich dann beim Verlassen von Rio auf der Marianne und dem offenen Meer so sicher gefühlt. Nun sind wir in Salvador und wollten eigentlich nur kurz bleiben. Doch obwohl ich auch hier schon dabei war, wie Frank das Handy vom Ohr geklaut wurde, antworte ich seit zehn Tagen auf die Frage, wie lange wir noch bleiben: „Zwei Wochen, es gibt so viele tolle Künstler hier.“